Das Eigene und das Fremde

Wie kommt eine Koreanerin dazu, einen Heimatfilm in Deutschland zu drehen? 

In der Grundschule in Südkorea lernten wir über Deutsche, wie diszipliniert und genügsam sie sind. Als Beispiel wurde dann die Geschichte erzählt; wenn ein Deutscher zum Rauchen ein Streichholz anzünden will, wartet er noch auf mindest weitere zwei und erst zu dritt wird es in Deutschland angezündet. Die Geschichte mit den sparsamen, geduldigen Deutschen hat mich damals schwer beeindruckt. 

Ich konnte zwar als kleines Mädchen die Handlung nicht nachahmen, aber beim jeden Auf- und Abdrehen des Wasserhahns und beim jeden An- und Ausschalten des Lichts musste ich an die Deutschen denken. Im Musikunterricht lernten wir deutsche Lieder wie das von der Loreley und vom lieben Augustin auf Koreanisch.

Als großes Mädchen las ich so ganz freiwillig Heinrich Heine. Ich weiß nun nicht so richtig, wie viel ich damals von Heine verstand und warum ich ihn gerne las. Aber ich erinnere mich, dass ich ihn sehr mochte. 

In den letzten Schuljahren paukte ich nur noch für die Aufnahmeprüfung für die Universitäten, die für das ganze künftige koreanische Leben entscheidend sein soll. So wurde meine Beziehung zu Deutschland zeitweise auf Eis gelegt. Die damalige Maxime der  Schüler lautet; „Mit 5 Stunden Schlaf schaffst du es, aber mit 6 Stunden Schlaf fällst du durch!“ Ich schlief mindest 7 Stunden täglich.

Trotzdem war ich dann 1985 in der Hauptstadt Seoul  – 11 Millionen Megacity –  als frisch gebackene Studentin an einer der beliebtesten Universitäten Südkoreas. Ich wollte Kommunikationswissenschaft studieren, um Journalistin zu werden. 

Die Euphorie hielt nicht mal drei Monate. Es fing sehr bald an mit den Demonstrationen der Studenten. Der damalige Diktator war durch einen brutalen Militärputsch an die Macht gekommen. Es gab jede Woche regelrechte Schlachten zwischen den Kampfpolizisten und den Studenten. Das wurde meinem Studium zum Verhängnis: meine Uni war zu jener Zeit das Mekka der Studentenbewegung. Während die spektakulären, wöchentlichen Schlachten auf dem Campus weltweit über Satellit  beinahe jedes Wohnzimmer erreichten, litt ich – eingeklemmt zwischen den Stühlen: 

Ich gehörte weder in die stalinistische, an Nordkorea orientierte Studentenbewegung noch zur apolitischen, schweigenden Mehrheit. So begann die schwierigste Etappe meines Lebens und somit die Beschäftigung mit den deutschen Philosophen. Ich las Goethe, Schopenhauer und Nietzsche in Koreanisch und grübelte über einen privaten Ausweg. Weggehen aus Korea?   So kam ich schließlich auf das „Land der Dichter und Denker“.

Mit dem Drang nach mehr Erkenntnissen und besonders mit der Sehnsucht nach einem friedlichen Studentenleben kam ich 1990 in Marburg an. Ich stieg in den Bus, jede Station wurde angesagt: Rudolf Bultmann Straße, Robert Koch Straße… Ich war begeistert, der Busfahrer klang in meinen Ohren wie ein Poet, seine Ansagen wie philosophische Erleuchtungen. Alle, sogar die Bettler, die zwischen der Mensa und der philosophischen Fakultät saßen und vor sich hin schwiegen, sahen in meinen Augen sehr intellektuell und belesen aus. An der Lahn sah ich dazu frei laufende Enten und Schwäne, die ich nur aus dem Zoo kannte. Ich dachte, das hier ist ein Paradies.

Dann bekam mein idealisiertes Deutschlandbild die ersten Kratzer. Ich sah damals fleißig fern, um Deutsch zu lernen. So stieß ich beim Zappen auf „Tutti Frutti“. Obwohl man mir gesagt hatte, dass die Macher dieser ordinären Show nicht Deutsche, sondern Italiener seien, war es für mich ein einschneidendes Erlebnis, dass so etwas in dem Land der Heines und Nietzsches möglich war. Und dann noch die Bild-Zeitung… 

Die weitere Entidealisierung Deutschlands ging dann rasch vonstatten. In dem kirchlichen Studentenwohnheim in Marburg waren pro Etage – aus Quotengründen – je zwei Ausländer untergebracht. Mit einem Sudanesen war ich auf unserem Flur einer dieser beiden „Ausländer vom  Dienst“. 

Wir beide sprachen anfangs ziemlich schlecht Deutsch. So wurden wir auch meist von dem gemeinschaftlichen Etagenessen ausgeschlossen. Damals lernte ich zum ersten Mal in meinem Leben kennen, was es bedeutet, nicht weiß zu sein und wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu sein.  Das Schlimmste war das notgedrungen gemeinsame Frühstück. Ich hielt die Stille kaum aus – keiner sprach. Ich hörte nichts anderes als mein eigenes Schmatzen und dachte, alle wären sauer auf mich. 

Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis wir Ausländer in die Etagen-Gemeinschaft integriert wurden – auch dank unserer offensiven Verköstigung der Etage mit Gerichten aus unserer Heimat. Auf diese Weise lernte ich wenigstens endlich koreanisch kochen. 

In der Küche sang ich  „Ach, Du lieber Augustin – alles ist hin“ auf Koreanisch. Die deutschen Studenten fielen in Deutsch mit ein. Ich merkte allmählich, dass die Anfangsschwierigkeiten im Wohnheim weniger mit Rassismus als mit Schüchternheit und Unsicherheit den Fremden gegenüber zu tun hatten. Trotzdem litt ich noch lange unter der kommunikativen Verklemmtheit der Deutschen. 

Die Kommilitonen im Seminar habe ich anfangs überhaupt nicht verstanden, fand sie aber ungeheuer klug. Aber dann nach drei Jahren:  Oh je, was für ein Gequatsche! Ich fing an, meine Vorurteile nun in eine diametral andere Richtung aufzubauen. Je mehr ich deutsch verstand, desto stärker wurden meine Vorbehalte den Deutschen gegenüber. Mein Marburger Freundeskreis bestand aus vielen Ausländern. Keiner von uns gab zu, dass wir gerne in Deutschland lebten. Waren wir unter uns, hatten wir unseren Spaß dabei, über die Deutschen zu schimpfen: sie sind kalt, langweilig und egoistisch. Die schlimmste Beleidigung war: du bist deutsch geworden. 

Wenn irgendwelche Fußballspiele stattfanden, waren wir automatisch immer gegen Deutschland, unabhängig davon, gegen welches Land es gerade ging. Ich absolvierte mein Studium also randvoll mit Vorurteilen und hatte dementsprechend Probleme mit der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und der Ausländerbehörde im besonderen. Obwohl ich dazu keine Lust hatte, musste ich deshalb weitermachen, also  promovieren. Als unfreiwillige, lustlose Doktorandin musste ich schnell eine andere Lösung für mein Aufenthaltsproblem finden. Ich beschloss, abzubrechen, eine Freundin wollte meine Heirat  mit ihrem schwulen Freund arrangieren. Wir sprachen das bis ins kleinste Detail durch, nur ihr Freund wusste noch nichts von seinem bevorstehenden Eheglück.  Als er von dem Plan erfuhr, lehnte er ab. Er wolle seinen Freund heiraten und noch paar Jahre warten, bis gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland möglich würde. Sein Warten hat sich gelohnt. Ich war fix und fertig. 

In Frankfurt lernte ich schließlich meinen Mann Thomas kennen, einen Filmemacher. Im Juli 2000, 10 Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland, 4 Jahre nach meinem Magister, 5 Tage vor dem Ablauf meiner Aufenthaltsgenehmigung standen wir dann morgens um 8 Uhr 15 im Standesamt in Frankfurt am Main. Seitdem habe ich die Chance, Deutschland anders – genauer – kennen zu lernen. Angeregt durch Thomas wurde ich zur anfangs eifrigen, dann begeisterten Zeitungsleserin, obwohl ich manche Artikel der FAZ nur mit dem Wörterbuch komplett geknackt kriegte.  2002 stieß ich dort zufällig auf einen Feuilletonsbericht  über „Wacken Open Air“.

Was ich dort las, schien mir unvereinbar mit meinem damaligen Bild der Deutschen zu sein. Ich wollte es nicht glauben: da fallen aus aller Herren Länder riesige Horden wilder Heavy Metal Fans in ein verschlafenes Dorf ein und alles läuft offenbar anders ab, als man erwarten würde. Aber warum? Wie konnten diese zwei scheinbar unvereinbaren fremde Kulturen friedlich miteinander zurecht kommen? 

Das war die zentrale Frage, die mich antrieb, darüber einen Film zu machen.  Weil das – hinter allem Getöse und Gebange – genau mein Thema, meine Wunde war, bin ich wohl die drei Jahre Produktionszeit bei der Stange geblieben. Und so  ist es gekommen, dass ich  altes Mädchen – mit 40 – doch noch meine Meinung  „über die Deutschen“ korrigieren musste, weil ich mich zu lange in einem schleswig- holsteinischen Kaff namens Wacken  herumtrieb. Die Menschen dort oben sind sehr aufgeschlossen, kontaktfreudig, redselig, lustig und temperamentvoll (!). 

Wo sonst in Deutschland wird ein Fremdling – dazu einer in solch furchteinflößendem Outfit – so willkommen geheißen, wo ist hierzulande der Kontakt so sehr durch Leichtigkeit, Akzeptanz und Fröhlichkeit geprägt? 

Ich habe von den Wackenern gelernt, dieses Land, in dem ich seit 18 Jahren lebe,  als meine Heimat zu begreifen und zu lieben.  Ich nenne meinen Film deshalb bewusst einen Heimatfilm.

Meine neu erworbene Erkenntnis aus dem Projekt war eine schlichte: Ich denke, dass derjenige, der unverkrampft in der Lage ist, sich und seine Heimat zu lieben, eher in der Lage ist, auch Fremde zu akzeptieren und vielleicht sogar zu  lieben.  

Vielleicht habe ich deshalb die tolle Stimmung auf der Fanmeile während der WM mehr genossen als mein deutscher Mann. Ich fragte ihn: „Wenn Ihr nicht zu euch und eurer Heimat steht, wie sollen wir Ausländer hier unsere neue Heimat finden? Womit sollen wir uns identifizieren, sollen wir uns in die Gesellschaft integrieren, mit der Ihr selber so viele Probleme habt?“ 

Artikel in “Welt” April 2007

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